Liebeserklärung an einen grauen, nassen Abend
Es ist Anfang Juni. Den ganzen Tag schon regnet es stetig und undramatisch vor sich hin. Grau, trübe, ein bisschen trostlos und melancholisch ist, was ich da durch´s Fenster sehe. In der aufziehenden Abenddämmerung scheint es eine ziemlich exotische Idee zu sein, jetzt noch einmal aus dem Haus zu gehen. Als ich, eingepackt in einen langen Regenmantel, feste Schuhe an den Füßen, die Tür hinter mir schließe, will ich nur ein halbes Stündchen trödelnd von der reinigenden Regenluft schnuppern, habe keine Lust auf sportliches Ausschreiten oder einen längeren Weg.
Der steile Hohlweg zur Lorettohöhe nimmt mich gleich gefangen – dort scheinen sich die Düfte immer besonders zu konzentrieren, der Wind hat wenig Chance, sie mit sich fortzunehmen – würzige Erde, Thuja, Rosen, Holunderblüten, Frische. Oben öffnet sich der Blick auf die große Wiese, nichts steht dort mehr, alle der fast meterlangen Halme sind umgebogen oder geknickt, niedergeworfen von der Schwere des Wassers und vom Wind. Und mitten in diesem Bild der Zerstörung, diesem Wirrwarr, der wohl bald beginnen wird, vor sich hin zu faulen: wie aufgefädelt auf einer Kette an jedem Halm diamantene, intensiv leuchtende Tropfenperlen. Überraschung, Entzücken bei diesem Anblick. Wer hätte hier eine solch subtile Schönheit erwartet?!
Das Geräusch des Regens auf den Blättern der Walnussbäume am Wegrand hat jenen speziell satten, tiefen, Geborgenheit verheißenden Klang, der mich an meine Kindheit erinnert – da ragten die Äste eines mächtigen Walnussbaums vom Nachbargrundstück bis vor mein Fenster. Welch ein Genuss, dem Murmeln des Regens in ihnen zu lauschen, warm ins Bett gekuschelt.
Jetzt, wo alle Farben sich in Grautönen auflösen, wo das Sehen höchstens noch Nuancen von Grün, Grau, Braun wahrnimmt, erwachen meine anderen Sinne. Die alten Bäume im großen Park unten am See sind schon von weitem zu hören – ein rauschendes Orchester, Konzert für Blätterdach und Regen. Beim Drunter-durch- Gehen ein vielstimmiges Gewisper, Geplitsche und Geplatsche. Was für eine geheime Konferenz ist hier im Gange? Großes Wohlwollen untereinander, soviel höre ich heraus.
Ich freue mich, dass der Wasserstand so deutlich angestiegen ist – das beruhigt kurzfristig ein bisschen meine Sorgen wegen des Klimawandels – und kann es mir nicht verkneifen, meine Schuhe dem Dreck auszusetzen, ganz unten am Saum des Wassers entlang zu gehen, um das unendlich entspannende, wohltuende Rollen, Gurgeln und Quirlen der Wellen ganz nah zu haben, begleitet vom Knirschen der abgeschliffenen runden oder eiförmigen Steine unter meinen Füßen – Tenor bis Bass, je nach Größe der Steine.
Das ist der Moment, wo ich beschließe, die lange Runde zu gehen, durch den Wald, zur Spitze vom Hörnle, am Jakobsbad vorbei und bei der Rosenau wieder durch den Wald zurück. Gewöhnlich vermeide ich es, im Dunkeln so weit im Wald zu gehen. Wenn der Mond nicht scheint, sieht man dann nicht mal den Weg, muss sich langsam vorwärts tasten, um nicht mit einem der Bäume zusammen zu stoßen. Doch jetzt bin ich so erfüllt von den Geschenken dieses Abends, dass mich nichts mehr hält. So gerne will ich noch die Stimmung der Landspitze erkunden, von der aus man diesen weiten Blick hat über die Länge des Sees, ohne das gegenüberliegende Ufer zu erkennen, wo der Übergang fließend ist vom See in den Himmel. Wo jedes Mal eine andere Überraschung von Licht und Schatten wartet, tagsüber auch an Farben. Vor mir die Wasserfläche, die mir immer wieder neu einen Geschmack gibt von der Unendlichkeit, hinter mir die große Wiese, mit ihren herrlichen Pappeln, Eichen, Buchen im Westwind, der hier stärker zu spüren ist. Dabei die köstliche Stille – hier gibt es keinen Verkehrslärm, keine Gespräche, keine Musik, auch nicht aus der Ferne. Nicht einmal Boote sind heute unterwegs. Nur Regen, Wind und Wellen. Stille und Raum – sie öffnen Portale, durch die das Unmanifeste, die Liebe in die Welt eintreten kann – wie Eckhart Tolle sagt.
Dieser Abend vereint zwei Elemente, von denen jedes für sich genommen schon außergewöhnliche Erfahrungen verspricht – Regen und Nacht. Die meisten Spaziergänger wählen komfortablere, hellere und eher heitere Bedingungen. Licht, Sonne, Farben lassen sich leichter konsumieren, bequemer für sich nutzbar machen. Was mich angeht: seit ich zurückdenken kann, liebe ich es, im Regen draußen zu sein, wenn fast alle anderen sich in die Häuser zurückgezogen haben, ich ergreife die kostbare Gelegenheit, dabei zu sein, wenn Natur einmal ganz für sich ist, ihr zu lauschen und zu sein in ihr, ohne Ziel, ohne Zweck, und ohne die Ablenkung der täglichen Geschäftigkeit.
Ich erinnere eine Sommernacht, es war zwei Uhr morgens, ich wachte auf, war sehr müde und träge, aber ein innerer Drang trieb mich dazu, mich anzuziehen und nach draußen zum Wald zu gehen. Was ich dort sah, hörte und spürte, verzauberte mich und veränderte meine Wahrnehmung von Grund auf: ein sachter, ganz gleichmäßiger Wind strich durch die Blätter der Bäume und schien die Atmosphäre sanft und stetig durchzuarbeiten, zu reinigen und neu zu beleben. Hier waren Kräfte am Werk, die ich vorher noch niemals bemerkt hatte. Seither achte ich viel aufmerksamer auf diese Energien, die Zwiegespräche von Tieren und Elementen in der Stille der Nacht, das morgendliche Gezwitscher, die Lieder der Vögel. Was wissen wir schon davon, was sie für uns und die Erde mit all ihren Bewohnern tun, wie sie die Frische und Klarheit für den nächsten Morgen aus ihren kleinen Herzen und Kehlen in die Welt fließen lassen, im Frühling mit ihrem Tschilpen die Knospen der Bäume herauslocken?! Was wissen wir von der liebevollen, sich gegenseitig befruchtenden Beziehung zwischen der Luft und den Schwingungen, Strudeln, erzeugt von Vögeln im Flug? …
Alles grau und nass – gerne lasse ich mich einfangen von diesem Verzicht auf große wirkungsvolle Präsentation – weder Blumen, noch Landschaft, noch Farben und Licht, keine spielenden Kinder, Liebespaare, gebräunte Körper oder hübschen Sommerkleider – nichtssagend und langweilig, könnte man meinen. Und gerade dieser sparsam definierte Raum ist es, der uns tiefer erkennen lässt, was wir gewöhnlich übersehen – ein intensiv leuchtendes Glühwürmchen im Gras, die Fantasie im Design und das Geheimnis der Konstruktion von Schneckenhäusern (Goldener Schnitt oder Fibonacci- Spirale?) – jetzt sind besonders viele dieser wenig geliebten Wesen unterwegs. Der grüne Glanz und das majestätische Rauschen alter Bäume … . Ist es das herabkommende Wasser, das alle noch so harten Verkrustungen in der Lage ist zu lösen, weich zu machen, unser ständiges Bewerten und Beurteilen zu mildern, die Erinnerung an das immerwährende Fließen, den stetigen Wandel in allem Lebendigen, was die Seele so berührt, beglückt und friedlich macht? Ist es die ganz eigene Würde der Natur, das Zusammenspiel ihrer Elemente, die nun viel deutlicher wahrzunehmen sind?
Am Ufer kreuzt ein Fuchs meinen Weg, er hofft wohl auf leichte Beute bei den Entenpärchen, die mir zuvor begegnet sind. Und da ist sie, die Kehrseite, plötzlich flackert sie auf – die seit Jahrtausenden in alle lebendigen Wesen eingebrannte Angst voreinander, das Erschrecken über die Gewalt, mit der die einen von uns die anderen zerstören. Ich denke: es gibt viele Füchse in diesem Wald, der vor mir liegt; was, wenn einer sich bedroht fühlt, mich anspringt und beisst? Ein Fuchs ist schließlich so groß wie ein Hund, und mit dem Raubtier in ihm habe ich schon einmal Bekanntschaft gemacht, als er das Kaninchen der Nachbarskinder riss, dessen Todesschreie mich weckten aus dem Schlaf.
Es gelingt mir, mein Bewusstsein über die Verbundenheit alles Lebendigen und die Möglichkeit zur Kommunikation zu aktivieren, ich fasse mir ein Herz und gehe mutig hinein in den Wald. Dabei gestikuliere ich, schlurfe mit den Füßen über den Boden, spreche laut mit mir selbst und mit den Füchsen, damit sie mich rechtzeitig bemerken. So komme ich unbeschadet auf die andere Seite. Wer hätte auch etwas anderes erwartet?! Mein Verstand lacht mich aus.
Es bleibt eine leise Trauer darüber, dass Enten, Gräser, Diamanten, Bäume, Schnecken, Füchse, Menschen schon so bald vergangen sein werden, der Wunsch, dass all die Schönheit Dauer hätte. Und gleichzeitig die Erfahrung, dass Schönheit auf einer anderen Daseinsebene, in der es Zeit gar nicht gibt, ewig ist. Welch eine Fülle, welche Verschwendung, in der auf unserer Erde Formen, Blüten, Tiere, Menschen, Früchte entstehen und vergehen! Ist jedes Leben im besten Fall ein relativ kurzes Aufleuchten dessen, was in weiteren, kosmischen, göttlichen Dimensionen möglich ist? Haben wir Grund genug, froh zu sein, wenn allein das gelingt: diesen Teil von uns, der aus der einen Quelle stammt, sichtbar werden zu lassen, zum Leuchten zu bringen? Und von Zeit zu Zeit, am liebsten immer öfter, dieses Leuchten, sei es individuell auch noch so verschieden, bei unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten wahrzunehmen?
Übrigens – drei Tage nach meinem Spaziergang wurde mir erzählt, dass sich die Halme der Wiese auf der Lorettohöhe wieder vollkommen aufgerichtet haben. Ist es zu fassen?!